Circus Harlekin – Zouberhaft

Als sich zur Saisondernière des erfolgreichen 30-jährigen Jubiläumsprogramms am 25. September 2022 der Vorhang schloss, hielten es viele für aussichtslos, dass Harlekin im Folgejahr auf Tournée gehen kann. Zu viele Fragen waren offen, zu heftig war hinter den Kulissen das Zerwürfnis, wer künftig nach dem Tod des Circusgründers Pedro Pichler das Sagen haben soll. Nachdem bekannt wurde, dass sich die Co-Direktorin Monika Aegerter vom Circus Harlekin loslösen würde und ihr weitere treue Mitarbeitende folgten, schien das Weiterbestehen des Circus Harlekin undenkbar. Und nachdem auch noch der Förderverein aufgelöst wurde, glaubten die wenigsten an einen Neustart. Tempi passati.

Umso erfreulicher die Mitteilung der Familie Pichler, wonach Harlekin am 6. Mai 2023 in die Saison starten würde. Dafür musste das Regierungsstatthalteramt grünes Licht geben. Innert nur drei Monaten stellten Nicole Pichler, ihr Mann Petro und ihre Mutter Beatrice nicht nur das Programm und die Tournée zusammen, sondern holten auch sämtliche Genehmigungen ein und, und, und …

Pünktlich zur Première in Thun stand alles bereit: Ein tolles Programm mit schöner Ambiance, dazu die passende Live-Musik und Lichtregie, ein Programmheft und eine selbstbewusste Circusdirektorin im Zentrum, die gewillt ist, das Erbe ihres Vaters weiterzuführen. Trotz ihres 80%-Lehrerpensums, das sie übrigens auch weiterhin wahrnehmen wird, ist es ihr gelungen, nicht nur ein junges begeisterndes Artistenensemble zusammenzustellen, sondern auch freiwillige Helferinnen und Helfer um sich zu scharen, ohne die der Circusbetrieb heutzutage nicht mehr zu stemmen ist.

Das Premièrenpublikum, welches das Chapiteau fast bis zum letzten Platz besetzte, zeigte sich sehr begeistert über das Programm "Zouberhaft". Es staunte über Anastasiia Volkova am Luftring, hielt beim Duo Cradle im RE den Atem an, war beeindruckt von der Jonglage von Ivan Radev, fieberte bei Mikhail Hidei auf dem Schlappseil mit und benied Nina Rodrigues am Zopfhang eher nicht. Anstelle der bisher eher klassischen Clownerie tritt nun die Comedy. Nicole Pichler verpflichtete den Franzosen Thomy Leglise, der als Mister Tomito sehr rege das Publikum in seine Entrées und Reprisen integriert. Zusammen mit Maria Girda vollführt er zudem eine Quick Change.

Nicht zu vergessen, Nicole Pichler, welche die Kamele und das Lama vorführt, die schon beinahe zum Harlekin-Inventar zählen. Das Zelt zum Beben brachte die Truppe Cheban. Mit aufgeblasenen Schläuchen von LKW-Pneus gelingen den fünf Artisten Saltos und Hebefiguren. Als Schlussnummer ist die Truppe an der Russischen Schaukel zu sehen, wobei sie die Dimension der Circuskuppel bis auf den letzten Zentimeter ausreizt. Vor allem die Russische Schaukel wurde vom fünfköpfigen Circusorchester unter der Leitung von Kostiantyn Tsybizov sehr passend live untermalt. Überhaupt legt Harlekin weiterhin viel Wert auf Live-Musik, auch wenn sie an der Première teils zu laut war.

Nach der überaus reibungslos gelungenen Première, dem nicht enden wollenden Beifall und der Standing Ovation, bedankte sich eine erleichterte Nicole Pichler beim Publikum. Gross muss der organisatorische, finanzielle und vor allem auch emotionale Druck auf ihr und ihrer Mutter gelastet haben. Ein Grossteil davon fiel nun ab. Das Circusland Schweiz darf sich weiterhin am Circus Harlekin freuen. Was die Familie Pichler in den vergangenen Monaten trotz vieler Unsicherheiten und Hürden geschafft hat, verdient grossen Respekt und Anerkennung. Der Vorverkauf sei sehr gut angelaufen, war zu vernehmen. Dies zeigt, dass sich das Publikum in Harlekin's Reisegebiet nach "seinem" Circus Harlekin sehnt. Somit bleibt zu hoffen, dass auch hinter den Kulissen Ruhe einkehrt und dass sich die neue Direktion voll und ganz dem Weiterbestehen des Circus Harlekin widmen kann.

Bild & Text: Filip Vincenz